Ulrike Ottinger – Sessions
"Es bleibt immer das erste Mal. Gelesenes, die Imagination, die Konfrontation mit der Wirklichkeit. Muß die Imagination die Begegnung mit der Realität scheuen, oder lieben sich beide? Können sie sich verbünden? Verändern sie sich durch die Begegnung? Tauschen sie die Rollen? Es ist immer das erste Mal." (Lady Windermere in Johanna d'Arc of Mongolia)
Ihr erstes Foto hat Ulrike Ottinger mit neun Jahren gemacht, in einem Boot auf einer Amsterdamer Gracht. Zwei indische Herren, der eine im Trench, der andere in Turban und Maßanzug, lächeln in die Kamera. Auf die Bitte, ob sie sich fotografieren lassen würden, hatten sie freundlich eingewilligt.
Jedes der abertausend Fotos, die Ulrike Ottinger seither gemacht hat, ist ein erstes Bild. Stets weist es über sich hinaus: auf die ihm vorgängige Wirklichkeit, auf unzählige Bilder aus den Arsenalen der Künste, der Alltagskulturen und Mythen, und auf den visuellen Kosmos des immer dichter werdenden eigenen Œuvres. Gefundenes und Erfundenes begegnen sich in diesen Fotos. Sie sind die Arenen wechselseitiger Veränderung von Realität und Fiktion, Vergangenheit und Zukunft, Wunsch und Erfüllung.
Jedes der Fotos macht zudem die Instanz der Kamera und der Fotografin zum Teil des Bildes. Die erstaunliche Präsenz einer aufnehmenden und gestaltenden Kraft steht einer verschwindenden Zahl von Selbstporträts gegenüber. Das Subjekt der Künstlerin ist in die Form der Bilder gewandert. Dort zeigt es sich in ständig wechselnder Gestalt, kleidet sich stets in neue, überraschende Kameraperspektiven. Mal tritt sie als Blick eines voyeuristischen Reporters der Boulevardpresse auf, der vor lauter Sensationsgier wie mit dem Schießgewehr auf seine Opfer losknipst, mal als Poduzent billiger Fotoromane, die noch im Schwarzweiß so knallig daherkommen, daß wir nicht einmal die fehlenden Sprechblasen vermissen. Mal treffen wir auf das Blickkalkül der Hochglanzjournale und ihrer unterkühlten Modefotografie, die Körper, Kleider und Interieurs in eine einzige, perfekte Oberfläche bannen. Ein anderes Mal begegnen wir einem hochsensiblen, oftmals scheuen, ethnografischen Sehen, das seinem Gegenüber die Freiheit der Selbstdarstellung, des zurückgegebenen oder verweigernden Blicks eröffnet, ohne die eigene Betörung durch das Gesehene und Erfahrene zu leugnen. Und nicht zuletzt ist da der stolze Dompteurblick der großen Zirkusdirektorin, Szenaristin und Kosmologin, dem in der Arena des fotografischen Tableaus die "gemischte Raubtiernummer" gelungen ist. Einen winzigen Augenblick lang hält hier Alles, was sich außerhalb des fotografischen Raumzeitrahmens gegenseitig zerfetzen würde, still und fügt sich in ein wohlkomponiertes Bild. Die Tableaux vivants treten hier als artistische, mediale Gratwanderungen auf, als Stills, deren Protagonisten im nächsten Augenblick wieder aus ihrem Rahmen auszubrechen drohen. In diesem ephemeren Schrein der inszenierten Fotografie sind Naturalia und Artifizialia wie Kleinodien einer kostbaren Wunderkammer ausgestellt. Der Durchschnittsmann mit Vertreterköfferchen trifft auf den Lederschwulen, Zwerge und kleine Menschen aus Mythologie und Freakshow begegnen einem Akademikerinnentrio in Pepitakostümen und die drei nackten Tugenden des Journalismus geben sich mit dem wohldressierten Fleckenschweinchen Marilyn ein Rendezvous. Hier im Foto - und nur hier - scheint der einzige, perfekte Ort und Zeitpunkt ihres Stelldicheins. Die Kamera wird so zur Bühne, jede Aufnahme zum "Vorhang auf", das die Fotografie wie eine Monstranz erscheinen läßt, in der uns ein absurdes Welttheater offenbart wird.
Doch nicht nur die gestaltende Kamerainstanz tritt in den Fotos von Ulrike Ottinger an die visuelle Oberfläche. "Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluß", hat schon Christopher Isherwood 1935 von sich behauptet. In ähnlicher Weise wird die Kamera zum zweiten Auge Ulrike Ottingers. Als Notationsinstrument nimmt das optische Perspektiv seine Umgebung auf und entwickelt die Bilder als Stationen einer unendlichen Reihe von Annäherungen an die Wirklichkeit. Im gleichen Prozeß jedoch findet auch die sukzessive Annäherung der Wirklichkeit an die Vorstellungswelten der Künstlerin statt: Die Gesamtheit der Fotos als grandiose Foto-Session.
Doch innerhalb der prozessualen Gesamtstruktur des fotografischen Œuvres gibt es auch Bildsequenzen, die mehr oder weniger in sich geschlossen sind. Zum einen sind da die Fülle von improvisierten und inszenierten Porträts der Freundinnen und Freunde, die sich im Lauf der Jahre zu einem internationalen Kosmos von Künstlern und Künstlerinnen, Schauspielern und Schauspielerinnen, Schriftstellern und Schriftstellerinnen fügen. Fast allen ist die Freude an einer Selbstdarstellung gemeinsam, die alle Rollen sprengt. Nicht umsonst hieß eine der frühen Berliner Performances von Ulrike Ottinger und Tabea Blumenschein "Deformer - Transformer". In den Fotoserien einzelner Personen gerät das Genre des Porträts daher grundsätzlich ins Schwanken. Valeska Gert wirkt mit Herrenhut, Streifenpulli und schwarzer Brille wie der mafiöse Zwillingsbruder Eddie Constantins, der wiederum über sein Bierglas in die Kamera schaut, als sei er Bolle aus der nächsten Eckkneipe. Die Metamorphosen der Dargestellten werden zum seriellen Prinzip, das die Fotosequenzen vorwärts treibt. Am deutlichsten wird dies in den Fotografien Tabea Blumenscheins, die in den 70er Jahren entstanden sind. Ihr Gesicht wird zu jener Fläche, in der sich die Maskeraden des Selbst mit den Projektionen der Betrachter vereinen. Unzählige Weiblichkeitsbilder und einige versprengte von Männlichkeit scheinen in ihrem Antlitz, ihrem Körperbild und Kostüm auf, ohne ein Original entstehen zu lassen. Das "Urbild" ist nur als Negativ denkbar, als fotografische Matrix, die unendlich viele Bilder als Effekt immer neuer Aufnahmesituationen hervorbringt. Und so steht die Diva des Stummfilmkinos neben dem Gigolo mit Chapeau claque, die junge sowjetische Blondine mit Kopftuch neben der rotzigen Punkgöre in Leder und Nieten, die elegante Trinkerin mit verhangenem Blick neben dem Taxichauffeur im Karohemd.
Werden hier im Sprung von Bild zu Bild immer neue Personifikationen in die Gegenwart des fotografischen Abzugs katapultiert, so gibt es auch Sequenzen, die einen Erzählfluß suggerieren. So zeigt eine Bildfolge den Kampf der Protagonistin mit der Verführungsmacht eines Medizinschränkchens und seinem halluzinatorischen Inhalt, eine andere die schmissigen Annäherungsversuche Veruschka von Lehndorffs alias Dorian Gray in weißer Hemdbrust mit Fliege angesichts der hochtoupierten Tabea Blumenschein alias Andamana im schwarzweißem Tupfenkleid der Fifties. Statt einer Handlung sehen wir jedoch in der Bildfolge nur zahlreiche Facetten konstanter visueller Muster. Die Fotosequenzen verdichten so die Mythen und treiben gleichzeitig das Triviale und Banale an ihnen hervor. Und weil der Mythos seine ganz alltägliche Metamorphose erfährt, schauen wir uns diese Bilder so gerne immer wieder an.
Doch Ulrike Ottinger unterzieht nicht nur ihre Figuren sondern auch ihre Bilder einer grundlegenden Verwandlung. Mit Magdalena Montezuma kreiert sie eine Fotoserie, in der die ebenmäßige, geschminkte Maske des Gesichts sich zunächst durch mimische Grimassierungen, dann in der Spiegelung einer Metallfolie völlig verzerren. In diesem Prozeß verschmilzt die Imago Montezumas mit der fotografischen Oberfläche. Und mit ihrem Antlitz zusammen scheint sich auch die Fotografie bis zum Zerreißen zu dehnen. Selbst der in den Rahmen eingeschobene viereckige Spiegel mit seinen festen Grenzen kann als "Bild im Bild" nicht mehr Einspruch erheben gegen die mediale Sprengkraft des fotografischen Verfahrens. Er bleibt nur noch als Reminiszenz an eine fragil gewordene, frühere Ordnung der Bilder übrig.
Ulrike Ottingers Stills und Sessions sind nicht jenseits ihrer Malerei, ihrer Filme, ihrer Text- und Theaterarbeiten zu verstehen. Bereits im Paris der 60er Jahre entstanden Fotos mit Freunden, die zu Vorlagen oder zu integrierten und übermalten Teilen ihrer Gemälde einer "figuration narrative" wurden. In zahlreichen fotografischen Sessions entwickelt sie dann Bild- und Erzählideen, die modifiziert in ihren Spielfilmen wieder auftauchen. Stadtfotografien der Berliner Industriearchitektur werden so zehn Jahre später zu Fundgruben für ideale Drehorte, vor deren Folien mittelalterliche Springprozessionen und Inquisitionsszenen ebenso stattfinden wie die bösartigen Intrigen der Pressechefin Dr. Mabuse oder die Aufmärsche faschistischer Schlägertrupps. Diese im Film nur flüchtigen Szenerien schlüpfen ihrerseits wiederum in die großen fotografischen Tableaux, um im statischen Rahmen des "en face" offensiv ihr demonstratives Potential den Betrachtern und Betrachterinnen gegenüber auszuspielen. Und das in der fotografischen Binnenstruktur präzise komponierende Kameraauge Ulrike Ottingers läßt uns noch in den flüchtigsten Alltagsbeobachtungen, die sie auf ihren Reisen nach China, in die Mongolei, nach New York oder Südosteuropa macht, das Ebenmaß und die Schönheit, aber auch die Brüche in den Bildern der Menschen, Landschaften und Dinge erkennen.
In ihren Drehbüchern kommt all dies auf einem Blatt zusammen. Zeitungsillustrationen und Kitschpostkarten, der fiktive Erzähltext und die eigene registrierende wie gestaltende Fotografie, werden hier zu einem einzigen Palimpsest, das sich im Buch, aber auch im Kopf bildet. Was ist hier Dispositiv, was Realität, was Imagination?
"Les jeux sont faits" und gleich beginnt das Spiel von Neuem. Delphine Seyrig, die uns als Lady Windermere, Virgil und ethnologische Reiseleiterin durch die Unwägbarkeiten von Ulrike Ottingers Film Johanna d'Arc of Mongolia führt, ist Kronzeugin dieses Bildverfahrens. Sie spricht im Luxus-Wagon der Transsibirischen Eisenbahn den vielsprachigen Prolog zum bevorstehenden Abenteuer, der begleitet wird von einem ungeschnittenen 360 Grad-Schwenk der Kamera entlang den Oberflächen des artifiziellen, fahrenden Gehäuses. Am Schluß kehrt die Kamera wie in einem hermetischen Zirkel zu ihr zurück. Doch plötzlich, in einem winzigen Augenblick des Innehaltens - wir könnten auch sagen: im Moment der fotografischen Arretierung des filmischen Bildes - sehen wir einen Riß in der Trompe-l'œil-Kulisse. Es ist genau jener an die Oberfläche gebrachte Riß im Film, der auch den Abstand zwischen den fotografischen Bildern meint. Um ihn geht es Ulrike Ottinger, denn nur in diesem Dazwischen, in dieser medialen Pause, eröffnen sich die nächsten, die anderen Bilder.
© Katharina Sykora